Ein Mensch zu sein

von @ausruheulen

Als Plüschie finde ich es manchmal schwierig, die Menschen zu verstehen. Vor einigen Wochen, als ich spazieren flog, kam ich am Spielplatz vorbei und traf Klein Paulina mit ihrer Mutter. Freudestrahlend zeigte sie mir ihre erste Armbanduhr. Die Uhr funkelte Türkis und das Zifferblatt zeigte ein Portrait von Disneys Arielle. Ich war hin und weg! Ich liebe Meerjungfrauen, vor allem Arielle! Doch als ich begann, von der Realverfilmung zu schwärmen, die Disney gerade produziert, sah ich, wie sich Paulinas Lächeln versteinerte und auch das Gesicht ihrer Mutter verfinsterte sich. „Ich mag die neue Arielle nicht“, sagte Paulina und schmollte, während ihre Mutter zustimmend nickte. “Warum denn nicht?”, fragte ich verwundert. Ohne zu zögern erwiderte Paulina: „Weil sie schwarz ist”.

Virus Attacke

Als ich heimflog, fühlte ich mich krank. Etwas Schweres lag auf meiner Brust. Das ist sicher Corona, dachte ich, und flog zum Arzt. “Du hast dich nicht mit dem Corona Virus infiziert”, sagte dieser. “Das Virus, das dir zusetzt, ist viel gefährlicher, oftmals sogar tödlich und es kursiert schon seit Jahrtausenden. Das Virus heißt „Rassismus“ und leider gibt es dagegen keinen Impfstoff”.

Die Geschichte verstehen

Ich erschrak, doch der Arzt beruhigte mich und erklärte, es gäbe eine ganz simple Möglichkeit, das Virus zu bekämpfen, weitaus simpler, als die Suche nach einem Impfstoff. “Du musst einfach nur lesen”, sagte er. “Denn die beste Heilmethode ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Rassismus.” Das ist alles? Echt jetzt? Warum haben denn dann nicht schon viel mehr Menschen versucht, den Rassismus abzuschaffen? Zumindest von dieser Pandemie hätte die Welt doch schon längst befreit sein können. Die Menschen sind schon seltsam. Sie kennen den Lösungsweg und gehen ihn dennoch nicht. 

Arielles Fragen

Wäre Arielle Paulina und ihrer Mutter an jenem Tag begegnet, würde sie ihr Lied “Ein Mensch zu sein” heute wahrscheinlich eher so singen: „Und sehr interessiert, was man oben weiß. Hab viele Fragen und möchte drauf Antwort. Was ist Rassismus, warum brennt er heiß?“. Nun, was ich über Rassismus weiß ist, dass unterschiedliche Menschenrassen nicht existieren. Er ist also etwas, das der Mensch erfunden hat, eine Idee. Ganz offensichtlich keine gute Idee, denn sie geht davon aus, dass bestimmte Menschen wertvoller sind als andere. Wer auch immer Rassismus erfunden hat, der erfand die Ungleichheit. 

Wie denkt ein Rassist?

Ich begann also zu lesen und erfuhr, dass ich, wäre ich ein rassistisches Plüschtier, Kategorien wie Farbe, Herkunft, Sprache, Religion und Kultur nutzen würde, um andere Plüschies in Gruppen einzuteilen. Jeder Gruppe würde ich dann bestimmte Eigenschaften zuordnen. Wichtig hierbei wäre, dass die Eigenschaften, die ich für meine eigene Gruppe wählen würde, ausschließlich positiv sind. Für alle anderen Gruppen würde ich negative Eigenschaften wählen. Doch gibt es hier eine Hierarchie zu beachten: die Eigenschaften der Gruppen, die meiner eigenen Gruppe ähnlich sind, sollten nicht ganz so negativ sein wie die Eigenschaften der Gruppen, die meiner eigenen Gruppe weniger ähneln.  Mein Herz schmerzt bei dem Gedanken, so mit meinen Plüschiefreunden umzugehen. Zudem scheint mir die rassistische Methode, die Welt zu strukturieren, kein Produkt eines intelligenten Geistes zu sein. Sie ist kompliziert. Sie führt ins Chaos anstatt zur Ordnung. Ich bevorzuge minimalistische Strukturen: 1 Menschheit = 1 Gruppe.

Warum wurde Rassismus erfunden?

Der Mensch erfand den Rassismus, um trotz seiner unmenschlichen Taten sein gutes Gewissen behalten zu können. Als mir dies klar wurde, verlor ich mein Vertrauen in die Menschheit. Die lebte ja eigentlich in dem Bewusstsein, dass vor Gott alle gleich sind. Die Entwicklung einer Rassentheorie aber bot die Möglichkeit, Verbrechen gegen jene zu rechtfertigen, die nach dieser Theorie Untermenschen waren. Dachten die Menschen wirklich, ein Allwissender würde ihnen auf den Leim gehen? 

Die frühesten Spuren des Rassismus

Nun, zumindest hatte es schon sehr viel früher genug Dumme gegeben, die diesen Quatsch glaubten. Da bereits in der Antike eine große Nachfrage nach billigen Arbeitskräften bestand, beschloss Aristoteles einfach, Menschen zu verachten, die aus einem anderen Kulturkreis kamen. Er behauptete, jede Kultur, die anders war als seine, befände sich auf einer niederen Entwicklungsstufe. Aus dieser Interpretation schloss er, dass Menschen einer anderen Kultur geistig unterlegen und zur Versklavung bestimmt sein mussten. Im weiteren Verlauf der Geschichte wurde ein religiös-motivierter Rassismus erfunden, der die Menschheit in Ungläubige und Auserwählte teilte.  Mithilfe solcher Weltbilder wurde auch die Kolonialpolitik der Europäer und später auch die der US-Amerikaner, der Japaner und der Russen gerechtfertigt. 

Was ist Kolonialismus?

Als ich las, dass der Antreiber für das Bilden von Kolonien stets die Habgier ist, war ich geschockt. Die Gier nach mehr Macht, nach mehr Besitz und nach den Möglichkeiten, die sich dadurch ergeben. Die Griechen, die Römer und die Osmanen hatten bereits Kolonien, doch wenn wir vom weltweiten Kolonialismus durch die Seefahrer sprechen, so sind damit jene 500 Jahre der Weltgeschichte gemeint, in welchen vor allem europäische Nationen Länder im sogenannten globalen Süden eroberten, besetzten und ausbeuteten. Durch die Kolonialherrscher wurden die besetzen Länder ihrer Rohstoffe beraubt (Gold, Diamanten, Erz, Baumwolle, Kaffee, Kakao und andere Gewürze, Tabak und Farbstoffe), die dann in die Heimatländer der Besatzer exportiert wurden. Diese zwangen der unterdrückten Bevölkerung ihre Sprache, ihre Kultur und Religion auf und versklavte sie zum Zwecke des Rohstoffabbaus. Auch Vertreibung oder Völkermord war an der Tagesordnung. Die Kolonialmächte entführten sogar Sklaven und brachten sie nach Amerika, wo aufgrund ihres Völkermordes an der indigenen Bevölkerung Amerikas (sowie aufgrund der durch die Europäer eingeschleppten Epidemien) die Population der Ureinwohner so stark geschrumpft war (90 % starben), dass inzwischen Sklavenmangel herrschte.

Happy End

Hat der Prozess der Entkolonialisierung, der bis Ende der 90er Jahre andauerte, zu einem Happy End geführt? Nein. Denn Geschichte hat immer Auswirkungen auf die Gegenwart. Nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft wurden die ausgebeuteten Länder im Chaos zurückgelassen. Die Folgen des Kolonialismus sind instabile Regierungen, Volkswirtschaften, die es schwer haben, sich zu erholen, ethnische Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen.  Mich an dieser Stelle kurz zu halten, gibt mir ein ungutes Gefühl. Allerdings ist dieses Thema so umfangreich, dass es wahrscheinlich noch ein bis zwei weitere Artikel brauchen würde, um die direkten und indirekten Folgen des weltweiten Kolonialismus auch nur grob zu beschrieben.  

Kann man das Denken entkolonialisieren? 

Ich frage mich, was mit dem kolonialistischen Gedankengut geschah. Länder kann man politisch befreien, aber wie steht es mit unseren Gedanken? Kann man die auch entkolonialisieren? Wenn ich mich in dieser Welt so umschaue, bekomme ich den Eindruck, dass die Vorstellung, dass weiße Menschen noch immer als Standard angesehen werden, noch immer existiert. Auch sind Weiße noch immer privilegierter als indigene Bevölkerungsgruppen, als Schwarze oder als People of Color. Das einseitige Weltbild aus der europäischen und neo-europäischen Perspektive nennt man „Eurozentrismus“. Hier ein paar Beispiele: 

  • 1/3 der Weltbevölkerung gehörte zu den Kolonien des „Britisch Empire“. Das ist der Grund, warum English zur Weltsprache wurde. In Deutschland wird es positiv bewertet, wenn man die englische Sprache beherrscht, jedoch bekommt man oft ein unfreundliches „Hier spricht man deutsch” zu hören, wenn man sich mit jemanden beispielsweise auf türkisch unterhält. 
  • Das europäische Schönheitsideal ist führend in der Film- und Modebranche. Viele nicht-weiße Menschen benutzen daher Bleichcremes für die Haut, färben und glätten ihr Haar, unterziehen sich Schönheits-OPs, um möglichst europäisch auszusehen. Rassismen existieren also nicht nur in den Köpfen weißer Menschen. Internalisierte Rassismen (Rassismus gegen die eigene Person als Mitglied einer nicht-weißen Gruppe) entwickelt sich ganz automatisch dort, wo etwas wie Eurozentrismus vorherrscht.   
  • Schulbücher erzählen die Kolonialgeschichte aus Sicht der Gewinner, also als großes Abenteuer von Seefahrern, die wilde Stämme zähmten und das lateinische Alphabet unter die Leute brachten. 

Alltagsrassismus

Rassismus beginnt nicht erst beim Rechtsextremismus. Er findet bereits im Alltag statt in Form von kleinen, gedankenlosen Sätzen. Diese mikroaggressiven Aussagen können rassistisch sein, auch wenn sie nicht so gemeint sind.

RassismusPositiver Rassismus
Ich wette, dein Selbstbewusstsein hat gelitten, während du umgeben von großen, weißen, blonden Frauen aufgewachsen bist.  Schwarze können so toll singen und tanzen! Tritt doch bitte unserem Chor bei!
Unglaublich! Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr bei heißem Wetter auch schwitzt.  Asiaten gehören zur fleißigen Rasse, von daher: natürlich können Sie gerne diese Wohnung mieten!
Ich verwechsle euch immer! Ihr seht aber auch alle gleich aus.Der Job ist dir so gut wie sicher. Du hast doch den Exotenbonus. 

Der Rassismus der Zukunft

Obwohl man heutzutage wieder viel Rassistisches in der Öffentlichkeit hört, will keiner mehr „Rassist“ genannt werden, nicht einmal die Rassisten. Deshalb sprechen Rechtsorientierte von kultureller Identität, von Ethnien oder Nationen. Sie behaupten, dass unterschiedliche Kulturen voreinander geschützt werden müssen, indem man sie voneinander trennt. Diese Art des Rassismus nennt sich “Ethnopluralismus”.  Als ich diesen Begriff zum ersten Mal hörte, klang er für mich weltoffen. Doch in Wahrheit handelt es ist nur um alten Ideenschrott mit neuem Anstrich. 

Wie bleiben eure Menschen ein Teil des Problems? 

  • Indem sie denken, es sei nicht ihr Problem, weil sie von Rassismus nicht betroffen sind. 
  • Indem sie denken, Rassismus müsse allein durch die Opfer bekämpft werden. 
  • Indem sie denken, dass es auch Rassismus gegenüber Weißen gibt. Das ist nicht der Fall, außer man macht die Geschichte des Rassismus ungeschehen. Wir erinnern uns: Rassismus ist eine Ideologie der Ungleichheit. In jeder Gesellschaft werden Weiße privilegiert behandelt, genießen die Vorteile des Rassismus. Rassismus gegenüber Weißen ist eine Erfindung der Weißen, um das Thema zu banalisieren.
  • Indem sie denken, struktureller Rassismus existiere nicht. Die Geschichte offenbart, dass Rassismus immer strukturell ist.  

Wie werden deine Menschen ein Teil der Lösung?

  • Indem sie sich bewusst machen, dass sie alle in einer post-kolonialen Welt leben. Daher sind sie alle rassistisch sozialisiert worden. Das ist weder gut noch schlecht, sondern lediglich die Folge der Kolonialgeschichte. Ihre Verantwortung liegt nun darin, ihre Gedanken, ihre Sprache und ihr Verhalten zu reflektieren und mit Rassismus sensibel umzugehen.
  • Indem sie sich ihrer Privilegien als Weiße bewusstwerden, und indem sie zu Verbündeten werden von Menschen der schwarzen und indigenen Bevölkerungsgruppen sowie von People of Color (BIPoC).
  • Indem sie Rassismus aufzeigen, und indem sie Uninformierte über Rassismus versöhnlich aufklären.

Dies ist nur eine sehr grobe Zusammenfassung dessen, was ich über die Menschenwelt gelernt habe. Mir scheint, die Menschen müssen noch viel von der Plüschiewelt lernen. Bei uns gibt es keine “Die Besten gegen den Rest” – Mentalität. Vielleicht lieben deswegen gerade die Menschen, die sich nach Harmonie in der Welt sehnen, Plüschies so sehr.

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